Fukushima – Unfallhergang[1]
Christoph Pistner , Reinhard Müller
Am 11.03 2011, 14:46 Uhr Ortszeit ereignete sich ein Erdbeben der Stärke 9,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala, mit dem Epizentrum 155 km vom Standort des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi entfernt, im pazifischen Ozean. Das Erdbeben führte zum Verlust sämtlicher zu diesem Zeitpunkt verfügbarer externer Stromnetzanbindungen, jedoch starteten die für diesen Fall vorgesehenen Notstromdieselaggregate wie geplant. Die Blöcke 1-3 wurden heruntergefahren. Die Nachzerfallswärme konnte ebenfalls abgeführt werden, in Block 1 über einen Notkondensator und in den Blöcken 2-3 in die jeweiligen Kondensationskammern.
Durch das Erdbeben wurde ein starker Tsunami ausgelöst, der weite Bereiche der japanischen Ostküste verwüstete. Ab etwa 15:27 Uhr Ortszeit trafen die ersten Wellen am Standort Fukushima Daiichi ein, ca. 10 min später erreichte die höchste Welle (Scheitelpunkt ca. 14m) die Anlage. Es kam zu einer vollständigen Überflutung der Nebenkühlwasserpumpen im Küstenbereich, so dass die Wärmeabfuhr aus der Kondensationskammer über das Nachkühlsystem nicht mehr länger möglich war. Auch auf dem Anlagengelände selbst wurde ein Wasserstand von bis zu 4 m erreicht. Da die verschiedenen Gebäude wie das Maschinenhaus oder das Reaktorgebäude nicht gegen eindringendes Wasser geplant und gebaut waren, wurden tiefliegende Stockwerke überflutet, in denen sich insbesondere auch die Notstromdieselgeneratoren, Schaltanlagen für die Verteilung des Stroms sowie Batterieräume befanden. Alle Notstromdiesel bzw. die zugehörigen Schaltanlagen der Blöcke 1-5 wurden zerstört. Damit trat in diesen fünf Blöcken der sogenannte Station Blackout, der vollständige Verlust der Drehstromversorgung, ein. Nur in Block 6 blieb ein einzelnes, höher aufgestelltes Notstromdieselaggregat erhalten.
In den Blöcken 1, 2 und 4 fiel darüber hinaus unmittelbar auch noch die batteriegestützte Gleichstromversorgung aus. Damit stand in diesen drei Blöcken überhaupt keine elektrische Energieversorgung mehr zur Verfügung. Es kam damit auch zum Ausfall wichtiger Messeinrichtungen, der Notbeleuchtung, von Kommunikationseinrichtungen etc. Auch konnten sicherheitstechnisch wichtige Armaturen nicht mehr angesteuert und ihre Stellung nicht mehr verändert werden. Ein derartiges Ereignis war weltweit niemals analysiert oder gar unterstellt worden.
Der Ausfall der gesamten elektrischen Energieversorgung führte in Block 1 dazu, dass der Notkondensator automatisch abgeriegelt wurde, was der Betriebsmannschaft infolge fehlender Daten erst viel später klar wurde. Nach einer kurzen Wiederinbetriebnahme des Kondensators kam es zu Fehleinschätzungen der Lage, worauf dieser wieder abgeschaltet wurde. Die Brennstäbe waren daher innerhalb weniger Stunden nicht mehr mit Wasser bedeckt. Es wird davon ausgegangen (Computersimulationen), dass in weiterer Folge ca. gegen 20:30 Uhr eine Kernschmelze im Reaktor einsetzte.
Dabei heizen sich die Brennelemente zunächst soweit auf, dass ab einer Temperatur von etwa 1200 Grad Celsius das Metall der Brennelement-Hüllrohre mit dem verbleibenden Wasserdampf reagiert, wobei sehr große Mengen von Wasserstoffgas freigesetzt werden. Um eine Wasserstoffexplosion bei solch schweren Unfällen zu verhindern, sind die Sicherheitsbehälter während des Reaktorbetriebs mit Stickstoffgas gefüllt. Daher bleibt die Produktion des Wasserstoffgases zunächst folgenlos. Im weiteren Verlauf schmilzt der Brennstoff und gelangt in den unteren Bereich des Reaktordruckbehälters. Durch die hohen Temperaturen versagt dieser in kurzer Zeit und die Brennstoffschmelze fällt auf den Betonboden des Sicherheitsbehälters. Dort kommt es zu chemischen Reaktionen zwischen der Kernschmelze und dem Beton, bei denen wiederum große Mengen Wasserstoff und andere Gase freigesetzt werden.
Um ein Versagen des Sicherheitsbehälters zu verhindern, sollte daher eine kontrollierte Druckentlastung des Sicherheitsbehälters, das sogenannte Venting durchgeführt werden. Offenbar gelangte das zuvor gebildete Wasserstoffgas durch Leckagen im Sicherheitsbehälter ins Reaktorgebäude und um 15:36 Uhr des 12.03. kam es zu einer massiven Wasserstoffexplosion in Block 1. Diese führte zu umfangreichen Zerstörungen an diesem und beeinträchtigte massiv die bisherigen Arbeiten zur Wiederherstellung der Kühlung und Energieversorgung auch der anderen Blöcke.
In Block 3 stand auch nach dem Tsunami zunächst noch eine elektrische Energieversorgung für das Hochdrucknachspeissystem aus Batterien zur Verfügung. Da dieses nur für einen kurzzeitigen Betrieb ausgelegt war und sich die Batterien zunehmend erschöpften, war auch in Block 3 ein Venting in Planung. Das Hochdrucknachspeisesystem versagte kurzfristig, es gelang jedoch, es von Hand wieder zu betätigen. Am 12.03. wurde ab 20:00 Uhr die Durchführung einer Druckentlastung vorbereitet, welche sich allerdings wegen fehlender Batterien noch bis 09:00 Uhr des folgenden Tages verzögerte. Am 13.03. um 2:42 Uhr wurde das Hochdruck-Nachspeissystem endgültig von Hand abgeschaltet, um eine alternative Einspeisung in Betrieb zu nehmen. Nachträgliche Simulationsrechnungen zeigten, dass es spätestens ab ca. 9:00 Uhr des 13.03. zumindest zu einer teilweisen Kernschmelze mit massiver Wasserstoffproduktion kam. Aufgrund der anhaltend hohen Temperaturen und Drücke im Sicherheitsbehälter, unter Umständen aber auch aufgrund von Leckagen an den Ventingleitungen, kam es auch in Block 3 zu umfangreichen Wasserstofffreisetzungen aus dem Sicherheitsbehälter in das Reaktorgebäude. Am 14.03. um 11:01 Uhr führte dies zu einer schweren Wasserstoffexplosion mit weitgehenden Zerstörungen in Block 3 und einer gravierenden Verschlechterung der radiologischen Situation auf dem Anlagengelände.
Wie in Block 1 war auch in Block 2 nach dem Tsunami die komplette elektrische Energieversorgung ausgefallen. Dennoch blieb das Hochdrucknachspeisesystem zunächst in Betrieb. Aufgrund der Erfahrungen aus den Blöcken 1 und 3 wurden jedoch auch hier Maßnahmen zur Einspeisung von Wasser von außen vorbereitet. Diese Arbeiten wurden durch die Explosionen in den Blöcken 1 und 3 jeweils stark beeinträchtigt, da vorbereitete Einspeisemöglichkeiten zerstört und bereits verlegte neue Stromkabel beschädigt wurden. Am 14.03. kam es zum Ausfall des Hochdrucknachspeisesystems. Auch in diesem Block wurden etwa 11 Stunden benötigt, bevor eine erneute Einspeisung von außen in Betrieb genommen werden konnte. Auch hier geht man davon aus, dass es zu einer Freilegung des Reaktorkerns und ab ca. 20:00 Uhr zumindest zu einer teilweisen Kernschmelze kam.
In Block 4 befanden sich zum Zeitpunkt des Ereignisses alle Brennelemente im Abklingbecken. Durch das Erdbeben und den anschließenden Tsunami war die Kühlung des Abklingbeckens sowohl in Block 4 wie in den übrigen Blöcken nicht mehr möglich. Aufgrund der großen Wassermengen im Abklingbecken standen bis zur Aufheizung und Verdampfung des Wassers allerdings mehrere Tage Karenzzeit zur Verfügung.
Am 15.03. gegen 6:00 Uhr ereignete sich völlig unerwartet auch in Block 4 eine schwere Explosion, die zu weitgehenden Zerstörungen am Reaktorgebäude führte. Aufgrund der späteren Analysen des Betreibers ist davon auszugehen, dass als wahrscheinlichstes Szenario für diese Explosion ein Übertrag von Wasserstoff aus Block 3 in das Reaktorgebäude von Block 4 beim Venting angenommen werden kann und nicht wie anfangs befürchtet aufgrund freiliegender Brennstäbe im Abklingbecken. In Folge der Explosion im Reaktorgebäude waren wesentliche Einrichtungen zur Kühlung des Abklingbeckens zerstört, eine Wiederaufnahme der Kühlung damit nicht mehr möglich. Es wurde daher versucht, von außen Wasser in das auf ca. 40 m Höhe befindliche Abklingbecken einzuspeisen. Dazu wurde zunächst mit Hubschraubern Wasser über dem Reaktorgebäude abgeworfen. Aufgrund der hohen Strahlungsdosis oberhalb der Abklingbecken mussten jedoch große Abstände eingehalten werden, so dass nur sehr geringe Mengen in diese gelangten. In der Folge wurde zunächst mit Wasserwerfern von Polizei und Selbstverteidigungsstreitkräften vom Boden aus Wasser auf das Abklingbecken gesprüht. Erst als nach mehreren Tagen eine Autobetonpumpe auf das Anlagengelände gebracht werden konnte, gelang es, den Füllstand zunächst im Abklingbecken von Block 4 und später auch in den Blöcken 1 und 3 wieder anzuheben.
In den Blöcken 5 und 6 fiel eine geringere Nachzerfallsleistung als in den Blöcken 1-3 an, da erstere bereits seit längerer Zeit abgeschaltet waren. Damit stand eine deutlich höhere Karenzzeit zur Wiederherstellung ausgefallener Systemfunktionen zur Verfügung. In Block 6 blieb außerdem einer der drei vorhandenen Notstromdiesel dauerhaft verfügbar und versorgte erforderliche Einrichtungen mit Drehstrom. Ab dem 13.03. konnte durch eine Querverbindung auch der Block 5 über diesen Notstromdiesel mit elektrischer Energie versorgt werden. Auch bei diesen beiden Blöcken waren die Nebenkühlwassersysteme durch den Tsunami zerstört worden. Bis zum 19.03. konnte eine provisorische Nebenkühlwasserpumpe beschafft und angeschlossen werden. Damit war die Inbetriebnahme des Nachkühlsystems möglich. Es kam in diesen beiden Blöcken daher nicht zu Schäden an Brennelementen in den Reaktorkernen oder im Abklingbecken.
Durch die Druckentlastungen und Behelfskühlung der Reaktoren und die Überhitzung der Abklingbecken kam es in den ersten Tagen der Unfallserie zu einem massiven Austritt von radioaktivem Material in die Atmosphäre. Die Belastung durch radioaktive Partikel und Gase hatte Auswirkungen auf die weitere Umgebung und auf die Rettungsarbeiten nach dem Erdbeben. Gebiete mit besonders hoher radioaktiver Belastung wurden evakuiert.
——
[1] Eine detailliertere Beschreibung des Unfallhergangs findet man im Beitrag von Christoph Pistner, „Der Unfallablauf in Fukushima – Chronologie und wesentliche Ursachen“ in Wolfgang Liebert et al., „Nukleare Katastrophen und ihre Folgen. 30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima“ (Berlin 2016) S. 77-93.